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Unsagbares Grauen

Unsagbares Grauen

Das Blutvergießen in Nahost muss augenblicklich ein Ende finden.

von Sabine Lichtenfels, A’ida al-Shibli, Uri Ayalon und Martin Winiecki

Wir sind zwar der Meinung, dass Menschen, die unter der Kolonialisierung leiden, ein Recht auf Widerstand haben, aber nichts kann diese Art von vorsätzlicher Brutalität gegen Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und Ältere, rechtfertigen.

Dieser Angriff fügt der Jahrtausende alten Geschichte des jüdischen Traumas ein weiteres Kapitel hinzu, das mit wiederholten Pogromen, Dezimierung und dem Holocaust beginnt. Dass jüdische Menschen diesen massiven Antisemitismus an so vielen Orten über einen so langen Zeitraum hinweg überlebt haben, zeugt von einer enormen Widerstandsfähigkeit. Ihr Bedürfnis nach einem Ort, an dem sie endlich sicher sind und in ihrem Schmerz anerkannt werden, ist mehr als verständlich.

Andererseits kommt der Angriff der Hamas nicht aus heiterem Himmel. Wenn wir der Gewalt wirklich ein Ende setzen wollen, müssen wir uns mit unserem ganzen Herzen damit auseinandersetzen, was Menschen zu solchen Taten veranlasst. Die Ereignisse vom Samstag dürfen nicht aus dem Kontext gerissen werden, in dem sie stehen: der ständigen, normalisierten, alltäglichen strukturellen Gewalt des israelischen Siedlerkolonialismus und der Besatzung gegen Palästinenser. Dies anzuerkennen, bedeutet nicht, die Aktionen der Hamas zu entschuldigen oder zu rechtfertigen – im Gegenteil, es scheint notwendig zu sein, um solche Eskalationen in Zukunft möglicherweise zu verhindern.

Auch wenn es für viele schwer zu akzeptieren ist, so ist es doch eine traurige Wahrheit, dass der Staat Israel durch die Vertreibung, Unterdrückung und Auslöschung der arabischen Einwohner Palästinas gegründet wurde und sich selbst erhalten hat. Die Gründung Israels ging mit dem einher, was die Palästinenser als „Nakba” (arabisch für „Katastrophe”) bezeichnen. Etwa 530 palästinensische Dörfer und Städte wurden zerstört und etwa 15.000 Palästinenser bei mehr als 70 Massakern getötet. Zwischen 1947 und 1949 wurden circa 750.000 Palästinenser gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht.
In den letzten Jahren haben mehrere angesehene Menschenrechtsorganisationen Israel vorgeworfen, den Palästinensern ein Apartheidregime aufzuerlegen. Einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2022 zufolge gehören zu den israelischen Praktiken beispielsweise Landenteignungen, rechtswidrige Tötungen, Zwangsvertreibungen, Bewegungseinschränkungen und die Verweigerung der Staatsbürgerrechte.

Das Leben in Gaza ist besonders schlimm. Die israelische Belagerung, die von Ägypten unterstützt wird, hat die Bedingungen im Gazastreifen zunehmend unerträglich gemacht. Seit 16 Jahren werden die 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens im größten Freiluftgefängnis der Welt unter absolut unmenschlichen Bedingungen – eingeschränkte Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Wasser und Strom – festgehalten und waren 2008, 2009, 2012, 2014 und 2021 massiven Bombenangriffen ausgesetzt, bei denen mehrere Tausend Zivilisten starben und Zehntausende verwundet, verstümmelt und traumatisiert wurden.

Wir fragen uns: Wenn die westlichen Regierungen mit der gleichen Empörung und Solidarität auf das palästinensische Leid reagiert hätten, hätten dann die Ereignisse vom Samstag überhaupt stattgefunden?

Die israelische Regierung reagiert nun auf die Aktionen der Hamas mit einer kollektiven Bestrafung der Bevölkerung von Gaza. Und wie üblich werden die Opfer dort die Zahl der Opfer in Israel bei weitem übersteigen – es sei denn, die internationale Gemeinschaft greift frühzeitig und energisch genug ein. Aber die Vorstellung, dass Brutalität ausgerottet werden könnte, ist es, die Brutalität überhaupt erst provoziert und hervorbringt. Sie ist nicht nur grausam und unmenschlich, sie hat auch noch nie funktioniert. Die Gräueltaten, die gegen Israelis begangen wurden, sind das Werk von Menschen, die das Gefühl haben, nichts zu verlieren zu haben.

Wir identifizieren nicht alle Israelis mit ihrer Regierung, genauso wenig wie wir glauben, dass alle Gazaner die Hamas unterstützen. Wir sind dankbar für alle Israelis, die sich weiterhin gegen die Besatzung und die Apartheid wehren. Wir sind uns auch bewusst, dass der Krieg in Israel-Palästina von westlichen und anderen Regierungen finanziell, politisch und militärisch unterstützt wird, die zu lange zu den Verbrechen geschwiegen haben, die mit den von ihnen gelieferten Waffen begangen wurden.

Jede politische Ideologie, die irgendeine Gruppe entmenschlicht und/oder Grausamkeit als Weg zur Befreiung oder Sicherheit rechtfertigt, wird nur zu noch mehr Unterdrückung und Krieg führen. Jedes menschliche Leben ist heilig. Der Schmerz über den Verlust eines Kindes, eines Elternteils, eines Verwandten, eines Geliebten, eines Freundes ist überall gleich, unabhängig vom religiösen, kulturellen, nationalen oder politischen Hintergrund.

Wahrer Mut besteht darin, den Kreislauf des Traumas zu durchbrechen, Rache abzulehnen und trotz allem zu lieben. Was im „Fruchtbaren Halbmond“ eskaliert, ist ein weltweites traumatisches Muster, in das wir alle mehr oder weniger stark verwickelt sind und in dem wir auf die Möglichkeit von Schmerz mit Abwehr und Angriff reagieren. Wir brauchen tiefe Entschlossenheit und gegenseitige Solidarität, um diesen Automatismus patriarchaler Systeme hinter uns zu lassen.

Wir erinnern uns an Etty Hillesum, die junge Jüdin, die vor ihrer Ermordung im Konzentrationslager in ihr Tagebuch schrieb: „Eines Tages werden wir eine ganz neue Welt aufbauen. Gegen jede neue Schandtat und jeden neuen Schrecken werden wir ein weiteres Stück Liebe und Güte errichten, indem wir aus uns selbst Kraft schöpfen. Wir können leiden, aber wir dürfen nicht aufgeben.” Oder heute der Arzt Izzeldin Abuelaish aus Gaza, der seine Frau durch Krebs und kurz darauf drei seiner Töchter bei israelischen Luftangriffen verlor. Trotz dieses unermesslichen Verlustes schwor er: „Ich werde nicht hassen!” und widmete sein Leben der Liebe und dem Dienst. Er sagt: „Man kann Krankheit nicht mit Krankheit und Tod nicht mit Tod bekämpfen.”

Inmitten all dieses Wahnsinns sind wir tief bewegt und dankbar für alle Israelis und Palästinenser, die sich weiterhin der Gewaltlosigkeit verschrieben haben, selbst jetzt, da ein weiteres gewalttätiges Kapitel aufgeschlagen wird. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie es sein muss, all diesen Verlust und Schmerz zu erleiden und trotzdem nicht der Korruption des Hasses nachzugeben, aber wir wissen, dass jeder, der eine solche Haltung einnimmt, ein Licht der Möglichkeit ist, das in einer Zeit wie dieser so dringend gebraucht wird.

Aus tiefstem Herzen: Danke!


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Zur derzeitigen Eskalation in Israel und Palästina“ auf tamera.org. Er wurde von Volkmar Richter aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratsteam lektoriert.


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